Gedenkstunde für die Opfer von Flucht und Vertreibung im Schlüterhof des DHM

Gruppenfoto mit Bundestagspräsident (v.l.n.r.): Dr. Maria Werthan, Dr. Bernd Fabritius MdB, Stephan Mayer MdB, Prof. Dr. Norbert Lammert MdB, Steffen Hörtler, Milan Horáček, Reinfried Vogler, Hartmut Koschyk MdB, Stephan Rauhut und Albrecht Schläger (© Bund der Vertriebenen, Foto: Vicky Griesbach).

Anlässlich des zweiten bundesweiten Gedenktages für die Opfer von Flucht und Vertreibung am 20. Juni 2016 hatte das Bundesministerium des Innern erneut zu einer Gedenkstunde in den Schlüterhof des Deutschen Historischen Museums in Berlin eingeladen. Nachdem im letzten Jahr Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Rede Parallelen und Unterschiede von gestern und heute aufgezeigt und dem Gedenken damit gewissermaßen einen Weg gewiesen hatte, konnte in diesem Jahr Bundestagespräsident Prof. Dr. Norbert Lammert als Redner gewonnen werden. Außerdem sprachen Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière MdB als Gastgeber, der emeritierte Freiburger Erzbischof Dr. Robert Zollitsch als Zeitzeuge von Flucht, Vertreibung und Deportation nach dem Zweiten Weltkrieg, der Syrer Mohammad Hechyar als heutiger Flüchtling und Dr. Bernd Fabritius MdB als Präsident des Bundes der Vertriebenen. Die musikalische Gestaltung übernahmen Mitglieder des Bundesjugendorchesters und internationale Gäste unter der Leitung von Martin Lentz.

Innenminister de Maizière eröffnete die Gedenkstunde mit einem Zitat Christian Graf Krockows über Tradition und Heimat: „Es gibt die menschliche Sehnsucht nach Ordnungen unseres Daseins. Ordnungen, die Vertrauen schenken, weil sie die Vertrautheit des Kindes noch dem Erwachsenen bewahren und Heimkehr ermöglichen.“ Solche Ordnungen seien Orte, Überlieferungen von Traditionen und Erzählungen, so der Minister. Wer aus seiner Heimat vertrieben werde, der verliere diese Ordnungen des Daseins und damit auch ein Stück weit das Vertrauen in die Welt. So müsse man das Leid der deutschen Heimatvertriebenen betrachten, die eben keine Chance auf Heimkehr hatten, aber auch das Schicksal heutiger Flüchtlinge, die ihre Heimat zumindest auf Zeit verlören. Sich in eine völlig neue Umgebung integrieren zu müssen, bewirke oft einen Verlust eigener Kultur, Identität und Orientierung. Hilfreich und heilsam sei es daher, sich gemeinsam zu erinnern und nach ähnlichen, aber ebenso nach unterschiedlichen Erfahrungen zu suchen.

De Maizière erinnerte daran, dass jeder fünfte Deutsche Vorfahren etwa aus Pommern, Schlesien, Ostpreußen oder der Bukowina habe, und würdigte die Aufbauleistung gerade dieser Menschen nach dem Krieg. „Wer von dem Schicksal der Vertriebenen weiß, bekommt ein Gespür für das, was unserem Land verloren gegangen ist und für das, was Vertriebene und Flüchtlinge unserer Tage erleben“, erklärte er und forderte eine „wechselseitige Achtsamkeit für Religiosität, Mentalität und Lebensgefühl“.

Bundestagspräsident Lammert begann seine Ansprache mit dem Hinweis auf die aktuellen Zahlen des Flüchtlingshilfswerkes der Vereinten Nationen: 65 Millionen Menschen seien derzeit auf der Flucht, nochmals rund zehn Prozent mehr als im letzten Jahr. Noch vor zehn Jahren sei laut Statistik alle sechs Minuten ein Mensch vertrieben worden. Heute seien es pro Minute 24 Menschen; bis zum Ende der Gedenkstunde würden mehr als 1.500 Menschen Opfer von Vertreibung. Daher könne man nicht nur über die Vergangenheit reden, wenn Flucht und Vertreibung Thema sei. Aus den Lektionen der Geschichte sei man in der Europäischen Union Verpflichtungen eingegangen – etwa die Genfer Flüchtlingskonvention oder die EU-Grundrechtecharta. In manchen EU-Mitgliedsstaaten spüre man heute wenig Verständnis für diese gemeinschaftlichen Verpflichtungen, mahnte Lammert mit Blick auf den Umgang mit der aktuellen Flüchtlingslage.

Auch wenn es Unterschiede gebe, zeige der Blick auf die Vergangenheit, dass die heutigen Herausforderungen zu bewältigen seien, so der Bundestagspräsident weiter und verwies auf die schwierige Situation der Millionen Vertriebenen, die in den Jahren von 1945 bis 1950 in das Nachkriegsdeutschland gekommen waren – „mehr als alle Menschen zusammen, die in den Folgejahren bis heute nach Deutschland gekommen sind.“ In dieser ersten Zeit seien knapp 50 Prozent der Vertriebenen in Lagern und gut 34 Prozent in Notwohnungen untergebracht worden. Von einer „Willkommenskultur“ hätte damals nicht die Rede sein können. Eben weil die Vergangenheit unser Koordinatensystem bilde und nur durch die Aufarbeitung Verständnis zu entwickeln sei, bedauerte Lammert, dass diese Tatsachen wenig bekannt seien. „Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen halte ich aus den angedeuteten Gründen für ein Gründungsdokument der Bundesrepublik“, bekräftigte er und beklagte das Fehlen ähnlich weitblickender Dokumente in der heutigen Zeit. Zur Bereitschaft, sich zu integrieren, gehöre auch die Bereitschaft zu integrieren; an beidem müsse aktuell gearbeitet werden, betonte der Bundestagspräsident zum Schluss.

Erzbischof em. Zollitsch übernahm bei der Gedenkstunde eine Doppelfunktion: zum einen als Zeitzeuge und zum anderen als Seelsorger und Versöhner. Der 1938 im jugoslawischen Filipowa geborene Donauschwabe hatte die ethnischen Säuberungen durch die sogenannte Jugoslawische Volksbefreiungsarmee als Kind miterleben müssen, dabei sogar einen Bruder verloren, war selbst 1945 in Titos größtes Vernichtungslager im damaligen Gakowa gebracht worden und später von dort entkommen. Bewegend schilderte er, wie er mit dem ersten Transport nach dem ungarischen Vertreibungsbefehl am 19. Januar 1946 aus Wudersch nach Deutschland kam: Was für andere Vertreibung bedeutete, war für ihn der Weg in die Freiheit. Heute wird am 19. Januar in Ungarn der vertriebenen Deutschen gedacht.

Dieser Tage würden ihm hin und wieder die Gewalterfahrungen seiner Kindheit bewusst, sinnierte Zollitsch. Solche Erfahrungen hätten einen prägenden Einfluss auf das Leben. Daher dürfe man die Betroffenen niemals allein damit lassen, sondern müsse ihnen helfen, über ihr Leid zu sprechen, damit umzugehen und die Verletzungen so vielleicht zu heilen. Opferhilfe und -gedenken, aber auch Versöhnungsarbeit seien Wege, die Gewalt und ihre Folgen in der Gesellschaft zu überwinden. Dies gelte nach wie vor, denn angesichts der vielen Schutzsuchenden „spüre ich die schreckliche Aktualität meiner eigenen – unserer – Erfahrungen“, so der Freiburger Alt-Erzbischof.

Nach ihm sprach der Kurde Mohammad Hechyar, der mit seiner Familie 2012 aus dem Nordosten Syriens in die Türkei geflüchtet war, über das deutsche Konsulat in Istanbul vor etwa zwei Jahren Asyl erhalten hatte und dann nach Deutschland geholt worden war. In seiner Heimat sei er Landwirt und in der Gewerkschaft politisch aktiv gewesen. Als die gewerkschaftlichen Organisationen verboten wurden, habe die Familie um ihr Leben gefürchtet.

In Deutschland bemühe sich die Familie nicht nur um die eigene Integration, sondern würde auch neue Flüchtlinge in deren Ankunft unterstützen. Durch diese Arbeit sei er mit dem Technischen Hilfswerk in Kontakt gekommen, wo er unterdessen auch Mitglied sei, berichtete der Syrer. Natürlich wünschten sich seine Frau und er, wieder in ihren erlernten Berufen zu arbeiten. Mehr noch aber wünschten sie sich, in ihre syrische Heimat zurückzukehren, sobald dort Frieden herrsche, um das zerstörte Land wiederaufzubauen. Hechyar zeigte sich überzeugt, dass das in Deutschland Gelernte dabei helfen könne.

Den Schlusspunkt der Veranstaltung bildete ein Grußwort von BdV-Präsident Fabritius, der den Fokus zunächst auf ein aktuelles Thema der Erinnerungspolitik lenkte: Mehr als eine Million Deutsche hätten im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg Zwangsarbeit geleistet und seien somit als menschliche Reparationen missbraucht worden. Viele der überwiegend zivilen Opfer dieser häufigen Begleiterscheinung von Flucht und Vertreibung seien in den Arbeitslagern oder auf dem Weg dorthin umgekommen. „Zeitzeugen berichten, dass die fremde, tiefgefrorene russische und ukrainische Wintererde nur widerwillig die Leichname der zahllosen Toten aufnehmen wollte. … Es mag bequem gewesen sein, kollektiv in Täter und Opfer zu unterscheiden und die Individualität von Schuld und Unschuld empathielos auszublenden“, so Fabritius nachdenklich. Für die im letzten Jahr durch den Bundestag beschlossene Entschädigung ziviler deutscher Zwangsarbeiter sei er daher im Namen aller Betroffenen sehr dankbar.

Fabritius erinnerte weiter daran, dass gegen Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg fast die gesamte deutsche Zivilgesellschaft aus Ost- und Westpreußen, aus Schlesien, Pommern, Ostbrandenburg, Danzig und dem Baltikum, aus dem Sudetenland, dem Karpaten- und dem Donauraum sowie aus den deutsch besiedelten Gebieten Russlands und der Ukraine vertrieben worden sei. Von den 15 Millionen Vertriebenen hätten mehr als zwei Millionen Menschen Flucht und Vertreibung nicht überlebt. Sämtlicher Opfer müsse voller Empathie gedacht werden, zumal „jede Vertreibung, jede ethnische Säuberung, egal wo, egal wann, egal durch wen, und egal wonach immer ein Verbrechen“ sei, so der BdV-Präsident. Mit seinem Schlusssatz verband Fabritius eine Aufforderung: „Wir wollen dankbar sein, heute hier in Frieden und Freiheit leben zu können.“

Quelle: BdV – Bund der Vertriebenen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, 27.06.2016