Eindrucksvolle Gedenkfeier in Bad Cannstatt – Politiker würdigen „Grundgesetz der Vertriebenen“

Statt des geplanten Festaktes „70 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ und der gemeinsam mit dieser Feier vorgesehenen Auftaktveranstaltung zum „Tag der Heimat 2020“ im Stuttgarter Neuen Schloss hat wegen der Corona-Pandemie der Bund der Vertriebenen am 5. August, am Denkmal der Charta im Kurpark Bad Cannstatt eine feierliche Kranzniederlegung durchgeführt. In Anwesenheit der Mitglieder des BdV-Präsidiums und von Vertretern der Landsmannschaften würdigten BdV-Landesvorsitzende Iris Ripsam und Kultusministerin Dr. Susanne Eisenmann eindrucksvoll die Leitschrift der Vertriebenen. Die höchsten Staatsämter, Ministerpräsidenten vieler Bundesländer, einige Bundesparteien sowie Landsmannschaften und BdV-Landesverbände hatten Kränze niederlegen lassen. Innenminister Horst Seehofer hatte aus diesem Anlass eine Beflaggung aller Bundesgebäude angeordnet.

Aufgrund der strengen Auflagen fand die Veranstaltung in überschaubarem Rahmen statt. Gäste, die dennoch hinzukamen, wurden ebenfalls gebeten, sich an die geltenden Abstandsregeln zu halten und Masken zu tragen. Interessierte Bürgerinnen und Bürger konnten die Kranzniederlegung per Facebook-Live-Stream verfolgen. Das Ereignis wurde überdies professionell filmisch begleitet. Diesen Film hat der BdV zwischenzeitlich auf YouTube und seiner Internetseite veröffentlicht. Ebenfalls angesehen werden kann dort ein Jubiläumsfilm. Der für die ursprünglich geplante Veranstaltung vorgesehene Festredner, Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble, hatte eine kurze Videobotschaft übersandt, die ebenfalls auf YouTube präsentiert wird.

Vor 70 Jahren hatten 30 Repräsentanten der nach dem Zweiten Weltkrieg vertriebenen Deutschen, auf Rache und Vergeltung verzichtet und ihre Mitwirkung an der Schaffung eines friedlichen, freiheitlichen und geeinten Europas garantiert. Gleichzeitig wurde ein „Recht auf die Heimat“ als ein „von Gott geschenktes Grundrecht der Menschheit“ festgeschrieben. Die Völker sollten erkennen, dass das Schicksal deutscher Heimatvertriebener ein „Weltproblem“ sei, dessen Lösung „höchste sittliche Verantwortung und Verpflichtung zur gewaltigen Leistung“ fordere.

Die Landesvorsitzende des Bundes der Vertriebenen in Baden-Württemberg, Iris Ripsam, hob bei der Kranzniederlegung hervor, dass die Charta aus einer Zeit stamme, in der es noch nicht selbstverständlich gewesen sei, auf Rache und Vergeltung zu verzichten. Kultusministerin Dr. Susanne Eisenmann lobte den Beitrag der Heimatvertriebenen am Aufbau Deutschlands. Dieser sei enorm und anerkennungswürdig. Sie sei ihnen „unendlich dankbar“ für ihre Leistungen. Besonders nach der bitteren traumatischen Erfahrung nötige es ihr mehr als nur Respekt ab, dass die Heimatvertriebenen mit der Charta diesen Weg eingeschlagen hätten.

Gruppenfoto in Corona-Zeiten, von links Brunhilde Reitmeier-Zwick, Dr. Maria Werthan, Johann Thießen, Raimund Haser, MdL, Reinhold Frank, Milan Horáček, Stephan Rauhut, Christian Knauer, Dr. Susanne Eisenmann, MdL, Siegbert Ortmann, Reinfried Vogler, Egon Primas, Dr. Bernd Fabritius und Albrecht Schläger. Foto: BdV/bildkraftwerk.

BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius wies in seiner kurzen Ansprache darauf hin, dass die betroffenen rund 14 Millionen Flüchtlinge und Heimatvertriebene unter anderem auch wegen der Verbrechen des Hitler-Regimes in ihrer eigenen Heimat „Opfer ihres Deutschseins“ geworden seien. Damals habe es ein „Dogma der Kollektivschuld“ gegeben. Angesichts des zunehmenden Ablebens von Zeitzeugen sehe er besondere Herausforderungen für die Zukunft. Das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen drohe in einer „Anonymität des generellen Opfergedenkens“ zu versinken, warnte er.

Die Einschränkung des gesellschaftlichen Lebens durch die Pandemie träfe gerade die Vertriebenen besonders hart. Unter diesen Umständen sei er dankbar, dass man zu einer stillen, andächtigen Gedenkstunde an historischer Stätte zusammenkommen konnte. Auf den Tag genau seien die Vorfahren, die Flucht und Vertreibung überlebt hatten, mit „einem wahren Paukenschlag“ an die Öffentlichkeit getreten und hätten eine Charta vorlegt, die man 1950 zuallerletzt den Vertriebenen zugetraut hätte. „Alles wäre denkbar gewesen – aber sicher nicht ein ‚Grundgesetz‘ der zukünftigen Arbeit, ein Dokument der Versöhnungsbereitschaft und des Racheverzichts aus der Feder der Opfer, die erst kurz zuvor ALLES, ihre Heimat, verloren hatten!“

Für ihn stelle sich die Frage, ob man heute die immense Tragweite der Charta und ihrer Proklamation überhaupt nachvollziehen könne. „Was bedeutete die Charta aber 1950 für die Millionen Vertriebenen, die in Not und Elend lebten, deren Familien vermisst, dezimiert oder über ganz Deutschland verstreut waren, deren Sehnen und Streben vielfach der verlorenen Heimat galt? Wie groß war damals die Gefahr, dass alles auch ganz anders hätte kommen können?“ Fabritius gab weiter zu bedenken, dass die Rahmenbedingungen für ein gutes Miteinander der Menschen in Deutschland denkbar ungünstig waren: Nahrungsmangel, materielle Not, Arbeitslosigkeit, traumatische Erlebnisse und psychische Ausweglosigkeit hätten ein bedrohliches Spannungspotenzial gebildet. Die Stimmung habe gebrodelt, die Lage war explosiv. Die internationale Presse hätte die damalige Situation bewertet, „dass Ruhe und Ordnung in den Reihen der Vertriebenen nur unter einer ganz dünnen Decke gewahrt blieben, die jederzeit mit verheerenden Auswirkungen für ganz Deutschland und für Europa brechen könne“.

In den Berichten der Besatzungsbehörden an ihre Regierungen warnten diese davor, die junge Bundesrepublik in dieser Sache im Stich zu lassen, da sie sonst „ideologischer Hilfe“ durch die östlich-kommunistischen Regime anheimfallen würde. Über allem habe „das sozialpolitische Damoklesschwert“ Millionen vertriebener Menschen geschwebt, deren weit überwiegende Mehrheit liebend gern sofort in die verlorene Heimat zurückgegangen wäre. Die Heimat im Osten verloren, im Westen nur geduldet, aber noch lange nicht „angekommen“, das Verbot der Selbstorganisation und Vernetzung untereinander noch frisch in Erinnerung – das war die Lage 1950, so der BdV-Chef.

Seine Zuhörer forderte er auf, sich zur Veranschaulichung der Situation kurz an die Eskalation an der griechisch-türkischen Grenze im Frühjahr 2020 zu erinnern. Hier habe sich deutlich gezeigt wie leicht Flüchtlingsmassen politisch manipuliert und als Rammbock für mögliche politische Interessen eingesetzt werden können. Genau das – darauf ließen historische Dokumente schließen – war 1950 Stalins Ziel für die deutschen Heimatvertriebenen.

Wie seine Vorrednerinnen wies Fabritius auf die Verantwortung hin, die den Nachkommen der Vertriebenen als Schicksalsgemeinschaft auf alle Zeit erwachse. „Wir sind es, die heute und morgen aufzeigen und vorleben, wie man aus furchtbarem Leid und großer Not dennoch immer wieder Wege zur Verständigung findet. Wenn den Vertriebenen der ersten Stunde mit der Charta ein solch großer Wurf gelingen konnte, so ist es für uns Auftrag und Verpflichtung – und heute erst recht ein Leichtes – zu unseren östlichen Nachbarn Brücke und Verbindung zu sein.“ Die Menschen von hüben und drüben seien diesen Schritt der Verständigung und Versöhnung schon längst gegangen! Damit seien sie auch Wegbereiter einer wahrhaftigen Erinnerungskultur geworden, die auf manch nationalen Ebenen viel zu lange auf sich warten ließ und warten lässt. Der BdV bleibe zuversichtlich, dass die ausgestreckte Hand immer wieder auch von den politisch Verantwortlichen und von den forschenden Historikern ergriffen werden wird. Dafür habe die Charta schon vor 70 Jahren den Boden bereitet.